Bacchus 3


"Bibibibiip, bibibibiip, bibibibiip, bibibibiip …" – Der Film lädt dazu ein, das Bacchische hinter der bisweilen nervtötenden Routine des Alltags zu erforschen und dabei den eigenen Träumen und Sehnsüchten nach festlichem Rausch und körperlicher Erfüllung nachzugehen: Eine lebensfreundliche Ermunterung zum selbstvergessenen Festen als Ressource zum Menschsein.

Ein far­ben­präch­ti­ger Traum vom gros­sen Or­che­ster aus Lust und Lei­den­schaft wird jäh un­ter­bro­chen vom nerv­tö­ten­den Wecker-Ge­piep­se. Das ver­zück­te Lä­cheln im Ge­sicht der träu­men­den jun­gen Frau auf dem Kopf­kis­sen weicht ei­ner miss­mu­ti­gen Mie­ne: All­tag, Au­gen auf, auf­ste­hen, Alex!

Nun al­les in ge­deck­ten Tö­nen, sehr kul­ti­viert und sty­lisch, von mor­gens bis abends: Pend­ler­zug – Büro – Bar. Alex mit stets ernst­haf­ter, pflicht­be­wuss­ter und et­was trau­ri­ger Mie­ne. Der Wecker piepst noch im­mer, dazu Gleis­ge­rat­ter, Ta­sta­tur­gek­lacker, Na­del­drucker­ge­zir­pe und Te­le­fon­ge­klin­gel. Im­mer wie­der das­sel­be: Bett – Zug – Büro – Bar – Bett – Zug – Büro – Bar – Bett – Zug – Büro – Bar …

An der Bar, wum­mern­de Bäs­se von fer­ne. Sie sitzt mit miss­mu­ti­ger Mie­ne als eine von vie­ren, die drei an­de­ren mit Blick ins Smart­phone, dazu al­les Klicken, Blub­bern und Zi­schen, was die Ge­rä­te so her­ge­ben. Ein wort­lo­ses Grup­pen-Sel­fie: Lä­cheln, Klick. Alex stützt den Kopf auf den Arm und schaut ins Lee­re.

Da geht hin­ter ihr eine Ge­stalt vor­über, far­ben­präch­tig wie ge­träumt. Ihr Luft­zug hin­ter­lässt eine vio­let­te Fe­der, die vor Alex in der Luft schwebt und sich sanft auf ihre Schul­ter setzt. Sie nimmt die Fe­der in die Hand und schaut sich um: Die Schwing­tür be­wegt sich noch. Hin­ter der Tür, am Ende des Gangs, steht eine weib­li­che Ge­stalt wie aus dem Mär­chen: Far­bi­ger als bunt, mit aus­la­den­den Hüf­ten, Wes­pen­tail­le, gros­sen Brü­sten und wal­len­dem schwar­zen Haar. Sie ver­schwin­det hin­ter ei­nem luf­ti­gen Vor­hang.

Vor­sich­tig fol­gend schiebt Alex den Vor­hang bei­sei­te …

Am Ende des Films wer­den mit Alex' fra­gen­den Blick "in die Ka­me­ra" auch die Zu­schaue­rin­nen und Zu­schau­er ein­ge­la­den, selbst das Bac­chi­sche hin­ter der bis­wei­len nerv­tö­ten­den Rou­ti­ne des All­tags zu er­for­schen und da­bei den ei­ge­nen Träu­men und Sehn­süch­ten nach fest­li­chem Rausch und kör­per­li­cher Er­fül­lung nach­zu­ge­hen: Eine le­bens­freund­li­che Er­mun­te­rung zum selbst­ver­ges­se­nen Fe­sten als Res­sour­ce zum Mensch­sein.

We­gen sei­ner kri­ti­schen An­fra­ge an die auch schu­lisch hoch­ge­schätz­ten Wer­te nüch­ter­ner Ernst­haf­tig­keit, stän­di­ger Selbst­kon­trol­le und stren­ger Lei­stungs­ori­en­tie­rung eig­net sich der Film zur Be­ar­bei­tung mit Ju­gend­li­chen ab ca. 16 Jah­ren in­ner­halb schu­li­scher Set­tings, die die­se Wer­te tat­säch­lich oder: in An­knüp­fung an den an­ti­ken Bac­chus- bzw. Dio­ny­sos-Kult oder: An­ge­sichts der (lei­der ge­ra­de be­en­de­ten) Fast­nachts- und Kar­ne­vals­zeit ein­mal hin­ter­fra­gen mö­gen.

Wie im­mer emp­feh­le ich, den Schü­le­rin­nen und Schü­lern zu­nächst eine un­vor­ein­ge­nom­me­ne Vi­sio­nie­rung zu er­mög­li­chen, an die sich eine er­ste Ver­ar­bei­tung des Films in spon­ta­nen Mur­mel­grup­pen an­schliesst. Wahr­schein­lich geht von dem Film ei­ni­ge Fas­zi­na­ti­on aus, mög­li­cher­wei­se auch Ir­ri­ta­ti­on. In­so­fern soll­te hier ge­nü­gend Raum für ei­nen er­sten of­fe­nen Aus­tausch sein.

An­schlies­send ist eine kur­ze Nach­er­zäh­lung der fil­mi­schen Nar­ra­ti­on im Ple­num sinn­voll, aus der sich eine be­reits stark struk­tu­rie­ren­de Un­ter­schei­dung der zwei Sphä­ren All­tag und Fest/Rausch ent­wickeln lässt. Es bie­tet sich an, dazu Be­ob­ach­tun­gen zu sam­meln: Wie wer­den die­se bei­den Sphä­ren film­sprach­lich ge­stal­tet (vor al­lem: Far­ben, Fi­gu­ren, Aus­stat­tung, Ge­räu­sche, Mu­sik, Hand­lung) und wie mar­kiert der Film die Über­gän­ge zwi­schen den bei­den Sphä­ren?

Am Ran­de: Eine Un­ter­schei­dung von Traum (oder: ir­re­al) und Wach­heit (oder: real) lie­fert am Ende wohl nicht viel. Denn selbst wenn das al­les "nur ge­träumt" ist, hin­ter­lässt die­ser "Traum" doch deut­li­che Spu­ren in der fil­mi­schen Wach-Rea­li­tät (vgl. Schluss des Films). Die Un­ter­schei­dung der bei­den Sphä­ren All­tag und Fest/Rausch ist da­ge­gen er­trag­rei­cher und (vgl. Ti­tel "Bac­chus") auch strin­gen­ter. Na­tür­lich: Fest/Rausch ist in­halt­lich gleich ge­füllt wie Traum/Sehnsucht, aber den­noch sind Traum/Sehnsucht – zu Be­ginn des Films – und Fest/Rausch – im Zen­trum des Films – zu­nächst zu un­ter­schie­den.

Die Mas­ke als zen­tra­les Sym­bol des Über­gangs zwi­schen den bei­den Sphä­ren könn­te im Un­ter­richt ge­nau­er un­ter­sucht wer­den. Da­bei wäre eine Un­ter­schei­dung von Mas­ke und Ver­mum­mung we­sent­lich, in­so­fern als eine Ver­mum­mung die Per­son ver­steckt und die Mas­ke die Über­nah­me ei­ner an­de­ren per­so­na (lat. Mas­ke, Rol­le, Per­son) er­mög­licht. Ein ge­schicht­li­ches Zu­rück­fra­gen nach der Be­deu­tung von Mas­ken an Fast­nacht und Kar­ne­val oder im Thea­ter und sei­nem an­ti­ken Ent­ste­hungs­kon­text, den grie­chi­schen Dio­ny­si­en, führt schliess­lich zum Ti­tel des Films: Bac­chus.

Der Film­ti­tel lie­fert den we­sent­li­chen Schlüs­sel zum Film. Be­vor die Schü­le­rin­nen und Schü­ler sich auf eine ent­spre­chen­de Re­cher­che zu Bac­chus so­wie zu den wei­te­ren Stich­wor­ten Bac­chana­li­en, Dio­ny­sos, Dio­ny­si­en, Dio­ny­sos­kult so­wie zu Bac­chan­tin bzw. Mä­na­de und den Bak­chen des Eu­ryp­ides be­ge­ben, könn­te das un­ten­ste­hen­de Bild der grie­chi­schen Ter­ra­kot­ta-Sta­tu­et­te ei­ner tan­zen­den Mä­na­de (Ta­rent, 3. Jh. n. Chr.) be­trach­tet wer­den. Die ver­blüf­fen­de Ähn­lich­keit der ver­füh­re­ri­schen Ge­stalt des Films mit die­ser Sta­tu­et­te ist wohl kaum zu­fäl­lig.

Bild: An­drew Ba­let, CC-BY‑3.0, com​mons​.wi​ki​me​dia​.org/​w​i​k​i​/​F​i​l​e​:​T​e​r​r​a​c​o​t​t​a​_​d​a​n​c​i​n​g​_​m​a​e​n​a​d​_​M​E​T​_​1​2​.​2​3​2​.​1​3​.​png

Die Be­schäf­ti­gung mit den an­ti­ken Be­zü­gen und Hin­ter­grün­den des Films lohnt sich nicht nur zur Er­schlies­sung des Films. Im Hin­blick auf den Film wird deut­lich, dass der Über­gang zwi­schen den bei­den Sphä­ren aus­ser ei­ner Zeit­rei­se in die An­ti­ke auch ein Aus­flug in ei­nen ganz an­de­ren Welt­zu­gang dar­stellt: Das mensch­li­che Le­ben ist dort nicht in er­ster Li­nie von Dis­zi­plin, Pflicht, Zu­ver­läs­sig­keit, Ord­nung, Funk­tio­na­li­tät und an­de­ren se­kun­dä­ren Wer­ten ge­prägt, son­dern kommt – ganz im Ge­gen­teil – in Aus­ge­las­sen­heit, Ent­hem­mung, Wahn, Rausch und Se­xua­li­tät zu sei­ner wah­ren Er­fül­lung. Dass die­ses Men­schen­bild nicht erst heu­te kri­tisch be­trach­tet wird, lässt sich mit dem so­ge­nann­ten Bac­chana­li­en­skan­dal be­reits für das an­ti­ke Rom nach­wei­sen. Dar­an an­schlies­send könn­te im Un­ter­richt über die bei­den kon­kur­rie­ren­den Welt­zu­gän­ge phi­lo­so­phiert wer­den: Was tut Men­schen gut? Wie baut man eine funk­tio­nie­ren­de Ge­sell­schaft? Wie kom­men Rou­ti­ne im All­tag und Aus­bruch aus dem All­tag in die rech­te Ba­lan­ce? Oder ganz per­sön­lich: Wie be­wäl­ti­ge ich die Rou­ti­nen und Zwän­ge mei­nes All­tags? Was sind mei­ne Träu­me und Sehn­süch­te? Wo­hin möch­te ich aus­bre­chen? Wie möch­te ich le­ben?

Auf dem Pro­jekt­blog zum Film fin­den sich ne­ben ent­zücken­den Team­fo­tos auch zahl­rei­che Blog-Bei­trä­ge aus der Ent­wick­lung und Pro­duk­ti­on des Films von Sep­tem­ber 2016 bis Fe­bru­ar 2018: Film­pla­ka­te, Film­stills, Fo­tos, Tests, Skiz­zen und vie­les mehr – eine Fund­gru­be für die Ar­beit mit dem Film.


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3 Gedanken zu “Bacchus