„… da war es nur noch eins!“ (wie im unsäglich-unsingbaren Kinderlied) – Mit einem Mix aus Animation und Realfilm konfrontiert Fabio Friedli abstrakte Vorstellungen von Flucht und Asyl mit der Wirklichkeit von flüchtenden Menschen: Ein Plädoyer für Humanität.
Animation: Kugelschreiber auf Zeichenpapier, wie eine Karikatur hingekritzelt, stark reduziert und etwas salopp. Durch die Wüste fährt ein Lastwagen, darauf Gepäck und zahllose Strichmännchen, absurd getürmt bis an den Himmel. Es ist geradezu unterhaltsam, wie die Figuren durch verschiedene Umstände und Ereignisse nach und nach dezimiert werden, amüsant, wie sie in der Achterbahn schreien, sich an der Sonne versengen oder vom Rotkreuz-Helikopter erschlagen werden. Nur wenige schaffen es bis an das Meeresufer, doch zu viele für das kleine Boot. Ein neuer Strichmännchen-Turm wird rasch zerkleinert, nun in der Logik des Meeres: ertrunken, gefressen, vergessen. Ein einziges Männchen nur wird an den europäischen Strand mit Sonnenschirm geworfen.
Real: Close-Up auf einen Afrikaner, trauriger Blick, geschlossener Mund, grauer Kapuzenpulli. Er schürzt die Lippen – es gibt nichts mehr zu sagen. Reverse-Shot an das andere Ende des langen Tisches, eine Frau und zwei Männer, jeweils mit Papierdossier und Kugelschreiber, dazu halb volle bzw. halb leere Wassergläser auf dem Tisch. Die Örtlichkeit: Ein sanierter Altbau in der Berner Innenstadt, Telefon auf USM-Gestell. Die wortlosen Blicke senken sich, die Drei kritzeln gelangweilt auf ihren Papieren herum. Kamera zurück auf den Afrikaner, nun in naher Einstellung. Er hält sein Glas in der Hand und schaut hinein: leer. Resigniert stellt er es ab. Wieder das andere Tischende, der Mann in der Mitte: Er schreibt oder zeichnet etwas, schaut auf. Als sein Blick sich wieder senkt, eine Detail-Aufnahme des Dossiers: Ein Asylentscheid des (damaligen, 2011) Bundesamtes für Migration, darauf:
Kugelschreiber auf Papier, wie eine Karikatur hingekritzelt, stark reduziert und etwas salopp. Durch die Wüste fährt ein Lastwagen, darauf Gepäck und zahllose Strichmännchen, absurd getürmt bis an den Himmel.
Der Kurzfilm thematisiert den Aspekt – und: den Anspruch – der Menschlichkeit innerhalb des Themenbereichs Flucht und Asyl und eignet sich in besonderem Masse zur Bearbeitung im Unterricht mit Jugendlichen ab ca. 13 Jahren.
Bereits vor der Visionierung könnte der einigermassen irreführende Titel ein Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit dem Film sein: „Bon Voyage“ – Welche Erwartungen weckt dieser Filmtitel?
Nach der Vorführung des Films stehen möglicherweise zunächst Eindrücke, Emotionen und Gefühle im Vordergrund. Durch seine Machart, die karikaturistische Überzeichnung und die überraschende bis schockierende Wendung zum Realfilm, löst der Film – wohl mit einiger Absicht – zunächst Gelächter, bald ambivalente Gefühle oder möglicherweise sogar Scham aus. Diese vielfältigen Eindrücke können zunächst in Murmelgruppen der Schülerinnen und Schüler untereinander ausgetauscht werden und müssen nicht zwangsläufig alle im Plenum thematisiert werden.
Im Anschluss daran bietet es sich an, anhand des Films die Ästhetik, Gestaltungsformen und Konventionen sowie – auf Seiten der Zuschauerinnen und Zuschauer – die Erwartungshaltungen und Wirkungen der beiden Gattungen Animationsfilm und Realfilm zu untersuchen und gegenüberzustellen. In einem weiteren Schritt könnte nach der Gestaltungsabsicht im Hinblick auf das filmisch angesprochene Thema Flucht und Asyl gefragt werden: Warum wird für den Hauptteil des Films die Gattung Animationsfilm eingesetzt und warum wird die Schluss-Szene als Realfilm umgesetzt?
Ausgehend von der damit gefundenen ersten und vielleicht noch vorläufigen Interpretation des Films wäre es sinnvoll, die im Animations-Teil des Kurzfilms gezeigten Vorgänge zusammenzutragen und anhand aktueller authentischer Berichte mit realen Fluchterfahrungen abzugleichen. Als Einstieg in diesen Schritt können Bilder von mit Flüchtlingen überladenen Lastwagen eingesetzt werden. Im Internet sind zahlreiche Bilder leicht auffindbar, z. B. die berühmte Fotografie von Roberto Neumiller auf der Seite des Hamburger Abendblatts. Darüber hinaus ist es eventuell sinnvoll, die fiktive Ebene dieses Kurzfilms zu verlassen und auch andere reale Fluchterfahrungen zu erforschen, zu dokumentieren und gegenseitig vorzustellen.
Schliesslich lohnt es sich, auch die Schluss-Szene des Films sorgfältig zu untersuchen. Dort sind wohl drei gestalterische Elemente besonders aussagekräftig, nämlich einmal die wortlose „Gesprächs-“ Situation zwischen den Figuren an den beiden Enden des Tisches, sodann die Charakterisierung der Figuren durch halb volle bzw. halb leere und eindeutig leere Gläser sowie schliesslich die karikaturistische Kritzelei auf dem Asylentscheid, die das Ende des Films an seinen Anfang zurückbindet und dem Film eine zirkuläre Struktur verleiht.
Wenn der Animationsteil des Films also als zynische Phantasie eines Menschen zu lesen ist, der über die Aufnahme oder Ablehnung des Asylgesuchs eines Menschen mit realen Fluchterfahrungen (und -gründen) entschiedet, und wenn auch der Filmtitel „Bon Voyage“ als ebenso zynischer Kommentar zum ablehnenden Asylentscheid zu verstehen ist, muss der Film als kritische Anfrage an die Humanität von schweizerischen und europäischen Asylverfahren gelesen werden: Was haben wir als gesetzgebende Stimmbürgerinnen und Stimmbürger im Kopf, wenn wir über die Revision des Asylgesetzes abstimmen? Zahlen, zahllose Horden, Strichmännchen auf Lastwagen – oder Menschen?
Aktuelle Informationen, statistische Angaben sowie Materialien für den Unterricht zum Thema Flucht und Asyl finden sich auf den Websites des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge UNHCR, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH und des Eidgenössischen Staatssekretariats für Migration SEM. Das IdeenSet Flucht und Asyl der PHBern und das Themendossier Migration/Flucht von éducation21 bieten aktuelle Hintergrundinformationen und umfassende Unterrichtsmaterialien zum Themenbereich.
Die von Methode Film produzierte DVD „Bon Voyage“ mit nichtgewerblich-öffentlichem Vorführrecht (Ö-Recht) enthält neben dem Film umfassendes Arbeitsmaterial für die Schule.
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