Brotherhood


"Wölfe kennen keine Gnade" – Dass diese Aussage auch für die "brotherhood" der IS-Truppen gilt, wissen Mohameds Sohn Malek und dessen Frau Reem nur allzugut

Mo­ha­med ist mit sei­nen bei­den Söh­nen Cha­ker und Rayene un­ter­wegs, um die Scha­fe ein­zu­sam­meln, die durch ein Loch im Zaun ent­wi­chen sind. Da draus­sen sind Wöl­fe: Ei­nes der Scha­fe liegt am Bo­den, vol­ler Blut, und der äl­te­re Sohn Cha­ker wird es mit ei­nem Schnitt durch die Keh­le er­lö­sen.

Sal­ha sitzt in­des­sen zu Hau­se und be­rei­tet das Es­sen vor. Im Ra­dio läuft ein Bei­trag über jun­ge Tu­ne­si­er, die nach Sy­ri­en ge­hen, um sich den IS-Trup­pen an­zu­schlies­sen. Sal­ha hört auf­merk­sam zu. Da nä­hert sich ein Auto. Ein Mann steigt aus, öff­net die La­de­klap­pe und hilft ei­ner Frau vom Fahr­zeug. – Sal­ha steht vor dem Haus und blickt sor­gen­voll auf das Paar, das sich da nä­hert.

Auch Mo­ha­med nä­hert sich dem Haus, er trägt das ge­schlach­te­te Schaf auf sei­nen Schul­tern, sein Hemd ist ganz durch­tränkt vom Blut des Tie­res. Sei­ne bei­den Söh­ne Cha­ker und Rayene sind bei ihm. Mo­ha­med blickt zum Haus und sieht den weis­sen Pick­up. Er ruft sei­ne Frau und tritt ins Haus.

Dort sitzt Ma­lek, der äl­te­ste Sohn von Sal­ha und Mo­ha­med. Er ist aus Sy­ri­en zu­rück­ge­kehrt mit Reem, sei­ner Frau, und sie ist schwan­ger.

Der in der Ka­te­go­rie "Best Live Ac­tion Short Film" für den Os­car 2020 no­mi­nier­te Kurz­film ent­wickelt in packen­den 25 Mi­nu­ten eine fa­cet­ten­rei­che Fi­gu­ren­kon­stel­la­ti­on zu ei­nem dra­ma­ti­schen Ende. Die Nar­ra­ti­on ist auch ohne de­tail­lier­tes Hin­ter­grund­wis­sen gut ver­ständ­lich und lädt ein zur Per­spek­ti­ven­über­nah­me ei­ner der sechs ein­drucks­voll ge­zeich­ne­ten Fi­gu­ren. So könn­ten im Un­ter­richt so­wohl die fil­mi­sche Nar­ra­ti­on und Fi­gu­ren­kon­stel­la­ti­on als auch ver­tie­fend der ak­tu­el­le po­li­ti­sche und ge­sell­schaft­li­che Hin­ter­grund in Tu­ne­si­en in den Blick ge­ra­ten. Dies al­les wohl erst mit Schü­le­rin­nen und Schü­lern ab ca. 16 Jah­ren.

Sechs Figuren

Nach der Vi­sio­nie­rung des Films – und ei­nem fünf- bis zehn­mi­nü­ti­gen er­sten Aus­tausch in Mur­mel­grup­pen – wäre es wohl sinn­voll, zu­nächst ge­mein­sam die Ge­schich­te zu­sam­men­zu­tra­gen. Da die Fi­gu­ren­kon­stel­la­ti­on und die viel­fäl­ti­gen Be­zie­hun­gen der Fi­gu­ren un­ter­ein­an­der zen­tral für die fil­mi­sche Er­zäh­lung sind, bie­tet es sich an, den Film zu­nächst in sechs Grup­pen und je­weils aus der Per­spek­ti­ve der sechs Haupt­fi­gu­ren (in der Rei­hen­fol­ge ih­res Auf­tre­tens:) Rayene, Cha­ker, Mo­ha­med, Sal­ha, Ma­lek und Reem zu re­kon­stru­ie­ren.

Die­ser Schritt könn­te mit der fol­gen­den Aus­wahl von sechs mal fünf Vi­deo­stills un­ter­nom­men wer­den.

Die­se Vi­deo­still-Aus­wahl geht da­von aus, dass der Film sich grob in fünf Pha­sen glie­dern lässt, in de­nen sich die Fi­gu­ren­kon­stel­la­tio­nen nach und nach ver­schie­ben: a. Schaf/Ankunft, b. Be­grüs­sung, c. Abend­essen, d. Kartenspiel/Abwasch und e. Strand/Wendung

Im Ple­num brin­gen dann alle sechs Grup­pen je ihre Per­spek­ti­ve in die ge­mein­sa­me Nach­er­zäh­lung des Films an­hand al­ler 30 Vi­deo­stills ein.

Gruppierungen

Aus­ge­hend vom Film­ti­tel "Brot­her­hood" kön­nen zu­nächst die Be­zie­hun­gen der sechs Film­fi­gu­ren zu­ein­an­der und die sich im Ver­lauf des Films ver­schie­ben­den Grup­pie­run­gen un­ter­sucht wer­den so­wie schliess­lich ver­schie­de­ne Kon­zep­te von "Brot­her­hood" ver­gli­chen wer­den. Für die­sen Schritt kön­nen er­neut die Vi­deo­stills her­an­ge­zo­gen wer­den.

Bei die­ser Ana­ly­se wird sehr deut­lich, dass der aus der "brot­her­hood" der IS-Trup­pen ge­flo­he­ne Ma­lek sehr schnell ins Zen­trum ver­schie­de­ner Be­zie­hungs­net­ze rückt (zu sei­ner Mut­ter, zu sei­nen Brü­dern, zu sei­ner Ehe­frau), wäh­rend der Va­ter aus sei­ner pa­tri­ar­cha­len Zen­tral­stel­lung schnell ins Ab­seits ge­rät, den fa­mi­liä­ren Rück­halt fast gänz­lich ver­liert und schliess­lich al­lein und ver­zwei­felt am Strand nach sei­nem Sohn ruft (der Rechts­staat bie­tet of­fen­bar kei­ne "brot­her­hood"). Für die bei­den jün­ge­ren Brü­der ist die Rück­kehr von Ma­lek Ge­le­gen­heit zur Ak­tua­li­sie­rung der ver­läss­li­chen Ge­schwi­ster­be­zie­hung, und so­gar die zu­nächst ganz ver­lo­ren er­schei­nen­de jun­ge Frau baut vor­sich­tig eine Be­zie­hung zu ih­rer Schwie­ger­mut­ter auf ("si­ster­hood"?). Sal­ha ist die stärk­ste Fi­gur des Films, die mit ei­gen­stän­di­gem Ur­teil und be­stimm­tem Han­deln ins­ge­samt da­für sorgt, dass nicht al­les zer­fällt.

Parallelen

In den zen­tra­len Pas­sa­gen ar­bei­tet der Film mit deut­li­chen Par­al­le­len, die schliess­lich ge­gen­läu­fig zum Kon­flikt zwi­schen Va­ter und Sohn auf­zei­gen, wie ähn­lich sich Va­ter und Sohn ei­gent­lich sind – und wie gross der Schmerz des Va­ters sein mag.

Der er­ste Satz in die­sem Film wird von Mo­ha­med ge­spro­chen: "Wöl­fe ken­nen kei­ne Gna­de". Mo­ha­med selbst aber ist gnä­dig und für­sorg­lich, er zeigt sei­nem Sohn Cha­ker, wie das ver­wun­de­te Schaf mit ei­nem glat­ten Schnitt von sei­nem Lei­den er­löst wer­den muss. Mo­ha­med trägt das so ge­tö­te­te Schaf auf sei­nen Schul­tern nach Hau­se und be­su­delt sich da­bei selbst mit dem Blut des to­ten Tie­res.

Fast als Par­al­lel­mon­ta­ge dazu zeigt der Film die An­kunft von Ma­lek mit sei­ner Frau Reem (ara­bisch: weis­se An­ti­lo­pe, Ga­zel­le). Auch Ma­lek ist vol­ler Für­sor­ge für die­se jun­ge Frau, die er wie ein ver­letz­tes Wild­tier nach Hau­se bringt und für die ein­steht, auch ge­gen die har­ten Wor­te sei­nes Va­ters.

Mo­ha­meds Satz "Wöl­fe ken­nen kei­ne Gna­de" bringt Ma­l­eks und Reems Er­fah­run­gen mit der "brot­her­hood" des IS auf den Punkt.

Treibgut

Zwi­schen den ein­zel­nen er­zäh­le­ri­schen Pha­sen bie­tet der Film kur­ze Zwi­schen­hal­te mit Bil­dern von tu­ne­si­schen Land­schaf­ten. Ein wie­der­keh­ren­des Mo­tiv (auch in der Strand­sze­ne mit den drei Brü­dern) ist da­bei das Bild ei­nes Mo­bi­les aus Treib­gut: Ein schö­ner Kom­men­tar über die mensch­li­che Exi­stenz.

Kontext

Für die un­ter­richt­li­che Er­ar­bei­tung der ge­schicht­li­chen, po­li­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen Hin­ter­grün­de des Films eig­net sich ver­schie­de­ne Ma­te­ria­li­en der Bun­des­zen­tra­le für Po­li­ti­sche Bil­dung in Deutsch­land, näm­lich ei­ner­seits das Dos­sier "Ara­bi­scher Früh­ling"
www​.bpb​.de/​i​n​t​e​r​n​a​t​i​o​n​a​l​e​s​/​a​f​r​i​k​a​/​a​r​a​b​i​s​c​h​e​r​-​f​r​u​e​h​l​i​ng/
und an­de­rer­seits das Dos­sier "Is­la­mis­mus"
www​.bpb​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​e​x​t​r​e​m​i​s​m​u​s​/​i​s​l​a​m​i​s​m​us/

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