Der Kleine und das Biest 1


"Biester sind sehr biestig untereinander: Da muss man sie beruhigen und ihnen zeigen, dass alles in Ordnung ist, … obwohl das gar nicht stimmt." – Die Trennung oder Scheidung nimmt der kleine Junge vor allem als Charakterveränderung seiner Eltern wahr; eine Verbiesterung, die – zum Glück! – wieder vorbeigeht.

Der Film nach dem gleich­na­mi­gen Bil­der­buch von Mar­cus Sau­er­mann und Uwe Heid­schöt­ter zeigt Tren­nung oder Schei­dung der El­tern ra­di­kal aus der Per­spek­ti­ve ei­nes klei­nen Jun­gen. Und da ist ei­gent­lich die Ver­bie­ste­rung der Mut­ter (und des Va­ters) das we­sent­lich grös­se­re Pro­blem als die Tren­nung oder Schei­dung der El­tern: "Wenn Dei­ne Mut­ter sich in ein Biest ver­wan­delt hat, ist vie­les an­ders."

In vier Sze­nen wird die An­ders­ar­tig­keit der Mut­ter deut­lich: Der Jun­ge will ei­nen klei­nen Hund strei­cheln, aber der be­ginnt plötz­lich zu knur­ren und läuft ängst­lich fort, als sich die Mut­ter wie ein dunk­ler Schat­ten nä­hert. Im Su­per­markt schlurft die Mut­ter apa­thisch um­her, sie ist völ­lig ab­we­send und äus­sert sich wenn über­haupt, dann nur knur­rend, brum­mend oder brül­lend. Am Abend sitzt die Mut­ter trau­rig am Tisch und zer­reisst mit schlech­ter Lau­ne alte Fo­tos, auf de­nen sie noch gute Lau­ne hat­te. Nachts kriecht sie Zu­flucht su­chend ins Bett des klei­nen Jun­gen, doch ver­drängt ihn schnar­chend und mit ih­rer Kör­per­fül­le. Tat­säch­lich ist die Mut­ter ins­ge­samt ein Biest, ein Un­ge­tüm, ein Mon­ster. Bei der er­sten Vi­sio­nie­rung ist das sehr rät­sel­haft: Was ist nur mit der Mut­ter ge­sche­hen?

In der vier­ten Sze­ne klärt es sich auf: Das Fuss­ball­spiel zwi­schen dem Klei­nen und dem Biest wird un­ter­bro­chen durch ein Au­to­hu­pen. Im Auto sitzt noch ein Biest: Der Va­ter des Klei­nen! Die bei­den Bie­ster knur­ren sich ganz ent­setz­lich zäh­ne­flet­schend an, bis der Jun­ge trö­stend sei­ne Mut­ter um­armt und rasch ins Auto des Va­ters springt.

"Nie­mand weiss, wie lang so eine Ver­bie­ste­rung dau­ert." Doch glück­li­cher­wei­se kann der Klei­ne be­rich­ten, wie aus dem Biest wie­der eine Mut­ter wur­de und was al­les dazu nö­tig war: Zeit und Ge­duld, vie­le schö­ne Som­mer­ta­ge, Ki­no­be­su­che, eine alte Freun­din, ein neu­es Kleid und vii­ie­le Te­le­fo­na­te.

So wie die Be­geg­nung mit dem klei­nen Hund, der Ein­kauf im Su­per­markt und das Fuss­ball­spiel zwi­schen den Ga­ra­gen zu­nächst die Ver­bie­ste­rung der Mut­ter deut­lich ge­macht hat, die­nen die­sel­ben Sze­nen nun mit neu­en, schö­nen und hoff­nungs­vol­len Er­fah­run­gen dazu, die Ge­sun­dung der Mut­ter zu zei­gen. Die Ver­bie­ste­rung war aus der Sicht des Klei­nen wohl so et­was wie eine Krank­heit, und wahr­schein­lich liegt er da­mit gar nicht so falsch. Als der klei­ne Jun­ge schliess­lich wie­der mit Au­to­ge­hu­pe ab­ge­holt wird und ins Auto des Va­ters steigt, äus­sert er sich trotz an­hal­ten­der Ver­bie­ste­rung sei­nes Va­ters zu­ver­sicht­lich: "Papa braucht noch ein biss­chen län­ger. Bis da­hin spie­le ich Fuss­ball, am lieb­sten mit ihm."

Der Film eig­net sich zur Be­ar­bei­tung mit Kin­dern ab 6 Jah­ren, the­ma­tisch geht es in der Per­spek­ti­ve des Films zu­nächst nicht um (ab­strak­te Er­wach­se­nen-Pro­ble­me:) Tren­nung oder Schei­dung der El­tern, son­dern um die (kon­kre­te und le­bens­prak­ti­sche Kin­der-) Fra­ge, wie Kin­der da­mit um­ge­hen kön­nen, wenn ihre Mut­ter oder/und ihr Va­ter ver­bie­stern bzw. (psy­chisch) krank wer­den. Von da­her wäre es auch denk­bar, den Film zu­nächst nur bis ca. zur Hälf­te (3'46'') und da­her ohne die Zu­spit­zung auf die Fra­ge Tren­nung oder Schei­dung der El­tern zu be­trach­ten.

Im Zen­trum der un­ter­richt­li­chen Be­ar­bei­tung soll­te – aus­ge­hend vom Film – in je­dem Fall nicht die Bie­stig­keit bzw. die Krank­heit der Mut­ter oder des Va­ters, und auch zu­nächst nicht die Fra­ge nach Tren­nung oder Schei­dung der El­tern, son­dern die er­folg­rei­chen Be­wäl­ti­gungs- und Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gien des klei­nen Jun­gen ste­hen. Zu­nächst mög­li­cher­wei­se als Em­pa­thie-Übung: Wie geht es dem klei­nen Jun­gen? Wie fühlt er sich? Was denkt er? Wo­von träumt er und was er­hofft er für sich?
Dar­über hin­aus könn­te nach den Res­sour­cen des klei­nen Jun­gen ge­fragt wer­den: Wie er­trägt er sei­ne Si­tua­ti­on? Was hilft ihm da­bei, die Si­tua­ti­on zu tra­gen? Was könn­te ihm aus­ser­dem noch hel­fen? Wo könn­te er Un­ter­stüt­zung su­chen? Bei wem könn­te er an­fra­gen?
Da­von aus­ge­hend sind Fra­gen zu den Res­sour­cen der Kin­der selbst mög­lich: Wo schöpft ihr Kraft in schwie­ri­gen Si­tua­tio­nen? Wo holt Ihr Un­ter­stüt­zung, wenn Ihr nicht mehr wei­ter wisst? Wie habt Ihr schon ein­mal eine schwie­ri­ge Si­tua­ti­on in Eu­rem Le­ben ge­mei­stert?

In ei­nem wei­te­ren Schritt kom­men na­tür­lich auch die El­tern in den Blick, vor al­lem die Mut­ter. Aus­ge­hend von der Dar­stel­lung des Film: Was fühlt die Mut­ter? Wel­chen Kum­mer könn­te sie ha­ben? Wor­un­ter lei­det sie? Was ist "an­ders" an ih­rem Ver­hal­ten? War­um be­nimmt sie sich "an­ders"?
Dazu ist auch eine Un­ter­su­chung der fil­mi­schen Dar­stel­lung der Mut­ter wei­ter­füh­rend: Wie wird die Mut­ter im Film ge­zeigt? Sieht sie "wirk­lich" so aus? Wer sieht die Mut­ter so? Wie wür­de man die Mut­ter in ei­nem Film dar­stel­len, der nicht wie hier als Animations‑, son­dern als Re­al­film um­ge­setzt wäre?

Bei ei­ner Vi­sio­nie­rung des ge­sam­ten Films wird der Grund der Bie­stig­keit der El­tern deut­li­cher. Erst dann kom­men die The­men Tren­nung und Schei­dung von El­tern auf's Ta­pet. Und da­mit wer­den mög­li­cher­wei­se auch ei­ge­ne Er­fah­run­gen der Kin­der in der Klas­se an­ge­spro­chen. Dann ist es wie­der­um ent­la­stend, nicht nur das "Pro­blem Schei­dung", son­dern all­ge­mei­ner den Um­gang mit "ver­bie­ster­ten" El­tern zu be­trach­ten. Das ken­nen alle (sage ich als Va­ter von zwei Töch­tern).

Die von Mat­thi­as Film pro­du­zier­te DVD "Der Klei­ne und das Biest" mit nicht­ge­werb­lich-öf­fent­li­chem Vor­führ­recht (Ö‑Recht) ent­hält ne­ben dem Film auch um­fang­rei­che Ar­beits­ma­te­ria­li­en von Kat­ja Gro­te.

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Bibliothekarische Bestellung des Films


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