Schwarzfahrer


„Die haben es doch alle gesehen.“ – Der Kurzfilmklassiker von Pepe Danquart nervt zunächst ganz gehörig und regt schliesslich an zum befreienden Lachen sowie – ganz ohne moralisierenden Unterton – auch zum Nachdenken über Zivilcourage. Der Film feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum und funktioniert noch immer.

Der Film sah schon immer älter aus als er ist: In einem fast zeitlosen und etwas unscharfen schwarz-weiss-Bild fährt eine S-Bahn in den Bahnhof ein – Berlin, im Hintergrund der Fernsehturm. Im Vordergrund versucht ein Mann erfolglos, sein Motorrad zu starten. An der Tramhaltestelle ein Querschnitt der Berliner Gesellschaft, Alte und Junge, Reiche und Arme, Grosse und Kleine, Einheimische und Zugezogene. Das Tram fährt ein, alle steigen ein, auch der Mann ohne Motorrad und zuletzt ein junger Schwarzer. Die Tür geht zu und los geht’s!

Der junge Schwarze sucht einen Sitzplatz und wendet sich (für Berliner Verhältnisse: sehr) freundlich an eine ältere Dame: „Ist da noch frei?“ Die schaut missgünstig an ihm hoch und wieder hinunter und wendet sich wortlos ab. Der junge Mann nimmt also Platz neben der Frau, ein Junge sitzt ihm gegenüber und grinst ihn freundlich an. Es ist sehr still im Tram. Die alte Frau schaut feindselig zum Schwarzen, stellt fest, dass er auf ihrem Jackenzipfel sitzt und reisst ihre Jacke grob unter ihm fort. Dabei fällt ihre Tasche zu Boden. „Sie Flegel!“ Und damit hebt die Frau an mit einem endlosen Geschimpfe, in dem sie die altbekannten und immer wieder aktualisierten ausländerfeindlichen und rassistischen Aussagen – man könnte fast sagen: klassisch – referiert.

Das Tram ist gut besetzt: Die Menschen lächeln müde, wenden den Kopf ab, vertiefen sich in ihre Zeitung, stellen sich schlafend oder schauen aus dem Fenster. Niemand reagiert. Ein älterer Mann nickt ihr zu, eher besänftigend als zustimmend. Die Frau spricht immer selbstbewusster, aber niemand widerspricht. An der zweiten Haltestelle steigt ein Fahrkartenkontrolleur ein und dann wird es sehr sehr lustig. – Und auch, wenn ich den Film schon deutlich über 25 Mal gesehen habe, muss ich immer wieder lachen vor Freude!

Eventuell birgt das erlösende Ende des Films und das zuverlässig erfolgende Gelächter im Publikum die Gefahr, dass der Film vollständig „weggelacht“ wird und lediglich eine unklare Schadenfreude oder das Gefühl der Genugtuung bleibt. Daher lohnt sich eine sorgfältige Bearbeitung. Der Film eignet sich nämlich in besonderer Weise – und auch heute noch – zur Auseinandersetzung mit der Frage, wie ausländerfeindlichen und rassistischen Aussagen in der Öffentlichkeit begegnet werden kann.

Bei einer Internet-Recherche finden sich äusserst zahlreiche Zusatzinformationen, Arbeitsvorschläge und Stundenentwürfe zum Film. Auch ich stelle hier einige Ideen für die Arbeit mit dem Film zusammen. Gerade weil der Film möglicherweise bereits bekannt ist (das macht gar nichts), empfehle ich keine Arbeitsschritte vor der ersten Visionierung.

Nach dem glücklichen Ende, dem fröhlichen Gelächter und einem (immer sinnvollen) ersten Austausch in Murmelgruppen schlage ich ausgehend vom Filmtitel eine Untersuchung des filmischen Rolleninventars vor: Es bieten sich mehrere Personen als „Schwarzfahrer“ an. Ausserdem: Welche Rollen spielen die anderen Figuren?

Dieser Schritt liesse sich weiterführen mit der Beschreibung der filmisch vorgestellten Gesellschaft, vor allem hinsichtlich ihrer Heterogenität. Und mit einem Vergleich: Wie beschreibt – im Gegensatz zum Film – die ältere Frau die Gesellschaft? Sowie: Wie würden wir unsere Gesellschaft beschreiben und was für eine Gesellschaft wünschen wir uns, speziell im Kontext Migration und Integration?

Bereits im Erscheinungsjahr war die besondere Bildgestaltung des Films auffällig: Welche Wirkung haben das schwarz-weisse Bild und die etwas altertümliche Ausstattung? Dazu können auch Kameraeinstellungen und Schnitt sowie die Tonspur auf ihre Wirkung untersucht werden.

Ausgehend vom verzweifelten Satz der älteren Dame am Ende „Die haben es doch alle gesehen.“ wäre schliesslich zu untersuchen, wie die filmisch gezeigte Gesellschaft reagiert auf Ausländerfeindlichkeit und Rassismus – genau wie auf die unerwartete Wendung. Und: Wie hätten die im Tram sitzenden Menschen alternativ reagieren können? Wie könnten wir reagieren, wenn wir daran mitarbeiten wollen, dass unsere Vision von gesellschaftlichem Zusammenleben Wirklichkeit wird?

Die vom Katholischen Filmwerk produzierte DVD „Schwarzfahrer“ mit nichtgewerblich-öffentlichem Vorführrecht (Ö-Recht) enthält neben dem Film die auch online zugängliche Arbeitshilfe von Klaus Vellguth.

Die von éducation21/Filme für eine Welt produzierte DVD „Respekt statt Rassismus“ mit nichtgewerblich-öffentlichem Vorführrecht (Ö-Recht) enthält u. a. den Film Schwarzfahrer (wahlweise mit französischen, italienischen oder spanischen UT) und auch online zugängliches Begleitmaterial.

Bibliothekarische Bestellung des Films

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