Up All Night – Beck


"Eine moderne Jeanne D'Arc" – Das Mädchen von nebenan erscheint als Heldin in silberglänzender Rüstung, wenn sie den arg betrunkenen jungen Mann aus dem feindlichen Umfeld einer ausser Kontrolle geratenen Party rettet. Das temporeiche Musikvideo gewinnt seine Kraft vor allem durch seine überraschenden Geschlechterbilder.

Der Jüng­ling, der da im Halb­dun­kel ei­ner wil­den Par­ty auf ei­nem Bil­lard­tisch steht, ist nicht mehr ganz so gut dran. Ge­mein­sam mit der schep­pern­den und im­mer lang­sa­mer lau­fen­den Ton­spur setzt auch er schliess­lich aus und bricht kra­chend auf die Tisch­flä­che. – Me­an­while out­side (schö­ne Ton-Bild-Mon­ta­ge): Eine jun­ge Frau tritt hef­tig und ent­schlos­sen ge­gen den Mast ei­nes schep­pern­den Stras­sen­schilds. Of­fen­bar er­folg­reich: Nach dem Schnitt hält sie das Schild wie ei­nen Schild am Arm. Ein Ge­wit­ter braut sich zu­sam­men. Mit ziel­stre­bi­gen Schrit­ten über­quert sie den Platz, kol­li­diert mit ei­ner wan­ken­den Dame im Ball­kleid: Bam! Mu­sik!

Schau­en wir uns die Hel­din nä­her an: Nicht gross, nicht klein, das Mäd­chen von ne­ben­an, sym­pa­thisch nor­mal, die Haa­re acht­los zu­sam­men­ge­bun­den, schwar­ze enge Jeans, hel­le Snea­k­ers, schwarz­weiss ge­streif­tes T‑Shirt, dar­über eine grü­ne Jacke mit bun­ten Auf­nä­hern (u. a.: Wile E. Co­yo­te aus Loo­ney-Tu­nes). Sie ist un­ter­wegs mit sehr ent­schie­de­nen Schrit­ten, stark, un­auf­halt­sam. Kur­zer Schnitt auf den Bil­lard­tisch: Er liegt noch im­mer da­hin­ge­streckt.

Sie ist auf dem Weg! Vor­bei an den drei la­chen­den Ty­pen vor dem Haus, im Vor­bei­lau­fen ent­reisst sie dem ei­nen die Ta­sche, greift hin­ein, wirft sie fort und beisst in den Dogh­nut mit ro­sa­ro­tem Zucker­guss. Im Haus­flur zieht sie das Haar­gum­mi vom Kopf und schüt­telt die knapp schul­ter­lan­gen Haa­re, zückt das Asth­ma­spray und in­ha­liert tief – Ent­span­nung vor der An­span­nung. Schnitt: Auch Ent­span­nung hier, die über­mäs­si­gen Ge­trän­ke ge­hen in die Hose und näs­sen den Bil­li­ard­tisch.

Sie dreht sich um die ei­ge­ne Ach­se und wird zur Su­per-Hel­din: sil­ber­glän­zen­de Rü­stung und Ket­ten­hemd von oben bis un­ten. Sie wirft das Spray fort und rennt los. Bam! Durch die Tür! Sie rennt und kämpft sich durch die Par­ty, wehrt Wurf­ge­schos­se mit dem Schild ab, springt quer über So­fas und längs über Ti­sche. Sie pas­siert die be­reits Dar­nie­der­lie­gen­den und wa­tet förm­lich durch die paar­wei­se und wild durch­ein­an­der am Bo­den Aus­ge­streck­ten.

Wer ist sie? Noch ein paar Me­ta­phern: Äus­serst at­trak­tiv und ma­gne­tisch an­zie­hend ist ihre Sou­ve­rä­ni­tät und Ent­schlos­sen­heit. Da­bei ist sie kei­ne Ab­sti­nenz­le­rin, hat die qual­men­de Kip­pe im Mund­win­kel, wäh­rend sie das Glas ein­schenkt. Sie bricht durch eine gan­ze Hor­de her­an­stür­men­der Ame­ri­can-Foot­ball-Spie­ler. Sie wird von tau­send Hän­den über alle Köp­fe nach vor­ne ge­tra­gen. Sie kämpft sich durch Ur­wäl­der und leert das Glas in ei­nem Zug. (Sie fällt nach hin­ten mit of­fe­nem Mund:) Chrom­glän­zen­de Ma­schi­nen-In­ne­rei­en, eine sil­ber­nes Auto, eine chrom­glän­zen­de Cor­vette (für Ken­ner: C3 Stin­gray). Der Aus­puff röhrt auf.

Er liegt noch im­mer da, in­zwi­schen wild ge­schminkt "up all night" und mit Zahn­pa­sta ver­un­stal­tet. Da tritt sie ein, in glän­zen­der Rit­ter­rü­stung – die sil­ber­ne Cor­vette macht Voll­gas – und alle tre­ten vor ihr zu­rück. Sie dreht mit qual­men­den Rei­fen auf der Stel­le, tritt aus dem weis­sen Ne­bel und trägt ihn hin­aus: Er noch im­mer be­sin­nungs­los, sie ab­ge­kämpft, ein für­sorg­li­cher Blick auf ihn, ein Lä­cheln auf ih­ren Lip­pen. Die Mu­sik ist aus.

Nach­spann: Er steht auf dem Dach der sil­ber­nen Cor­vette als wäre sie ein Skate­board und "surft" – noch im­mer ge­schminkt – in die un­ter­ge­hen­de Som­mer­son­ne. Wow!

Das tem­po­rei­che und en­er­gie­ge­la­de­ne, dazu äus­serst un­ter­halt­sa­me Mu­sik­vi­deo ge­winnt sei­nen Witz und sei­ne Kraft vor al­lem durch die über­ra­schen­de Um­keh­rung tra­di­tio­nel­ler – und wohl auch dem Song zu­grun­de lie­gen­der – Ge­schlech­ter­bil­der. Da­ne­ben fas­zi­niert das Vi­deo durch den span­nungs­vol­len Schau­platz zu nächt­li­cher Stun­de, die bunt zu­sam­men­ge­wür­fel­ten ju­gend­li­chen Cha­rak­te­re, die ei­ni­ger­mas­sen aus­ser Rand und Band ge­ra­te­ne Par­ty-At­mo­sphä­re inkl. sprich­wört­li­chem "Sex and Drugs and Rock'n'Roll". Auf die­se Wei­se spielt das Mu­sik­vi­deo auch mit Sehn­süch­ten nach wil­den Par­ties, nach Über­mut und Rausch, nach Aus­bruch aus Ord­nung, An­stand und ge­re­gel­tem All­tag. Die Be­ar­bei­tung des Mu­sik­vi­de­os ist da­her mit Ju­gend­li­chen ab ca. 13 Jah­ren mög­lich.

Für die un­ter­richt­li­che Ar­beit am Vi­deo hal­te ich ei­nen Mix aus Of­fen­heit und the­ma­ti­scher Fo­kus­sie­rung für sinn­voll. Nach ei­ner er­sten Vi­sio­nie­rung (noch ohne the­ma­ti­schen Fo­kus) bie­tet sich an, er­ste Ein­drücke in Mur­mel­grup­pen aus­tau­schen zu las­sen, ohne dass dies zwangs­läu­fig wie­der voll­stän­dig im Ple­num lan­den müss­te.

Erst eine zwei­te Aus­tausch­run­de in Part­ner­ar­beit oder Klein­grup­pen könn­te nach den im Mu­sik­vi­deo ge­se­he­nen und ge­hör­ten The­men fra­gen, die an­schlies­send im Ple­num zu­sam­men­ge­tra­gen wer­den. Je nach Grup­pe kann ei­nes der The­men wei­ter be­ar­bei­tet wer­den, zum Be­spiel:

Träu­me, Par­ty, Al­ko­hol, "Koma-Sau­fen", Dro­gen, Rausch, Se­xua­li­tät, Ent­gren­zung, Ex­zes­si­vi­tät, Re­bel­li­on, Aus­bruch, Sehn­sucht, Frei­heit, Ab­sturz, Über­for­de­rung, Sinn­lo­sig­keit, Angst, Ge­walt, Op­fer, Mas­se vs. Einzelne/r, Her­den­tie­re, Ag­gres­si­vi­tät, Un­ab­hän­gig­keit, Mut, "stär­ker als man aus­sieht", Zau­ber­trank, Ziel­stre­big­keit, Ret­tung, Be­frei­ung, Er­lö­sung.

(Vie­len Dank an die Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer an Pa­triks Stu­di­en­tag zum The­ma Me­di­en­welt­ori­en­tie­rung und Pop­kul­tur!)

Wie bei al­len nar­ra­ti­ven Fil­men lohnt sich auch bei die­sem Mu­sik­vi­deo eine sorg­fäl­ti­ge In­halts­ana­ly­se: Was ge­schieht ei­gent­lich in wel­cher Rei­hen­fol­ge und war­um? Was be­deu­ten die Bil­der? Was ist fil­mi­sche Rea­li­tät und was Bild­spra­che? Be­son­ders die fil­mi­sche Por­trä­tie­rung der weib­li­chen Haupt­fi­gur ist hier in­ter­es­sant, inkl. der Fra­ge nach der Be­deu­tung der sil­ber­nen Cor­vette. Aus­ser­dem: In wel­chem Ver­hält­nis ste­hen die bei­den Haupt­fi­gu­ren zu­ein­an­der? Wel­che Vor­ge­schich­te könn­te die im Mu­sik­vi­deo ge­zeig­te Epi­so­de ha­ben?

Be­son­ders in­ter­es­sant ist das Mu­sik­vi­deo hin­sicht­lich der dar­in de­kon­stru­ier­ten und neu (naja) in­sze­nier­ten Ge­schlech­ter­rol­len: Dazu bie­tet es sich an, den Song von Beck "Up All Night" ein­mal ohne Mu­sik­vi­deo (und wie zum er­sten Mal) zu hö­ren. Even­tu­ell kann dazu der Song­text ab­ge­ge­ben wer­den, der leicht im In­ter­net auf­find­bar ist. Dazu könn­ten fol­gen­de Fra­gen hel­fen: Wie er­scheint das (männ­li­che) Song­text-Ich beim Hö­ren des Songs? Wie lies­se sich die männ­li­che Haupt­fi­gur des Songs cha­rak­te­ri­sie­ren? Wie kann man sich das Song­text-Du ("up all night with you"!) vor­stel­len? Die bei­den Fi­gu­ren kön­nen mit Wor­ten, als fi­gu­ra­ti­ve Zeich­nung oder so­gar schau­spie­le­risch skiz­ziert wer­den. Was lässt sich über die Song­text-Fi­gu­ren im Hin­blick auf Ge­schlech­ter­rol­len sa­gen? – Und dann das Mu­sik­vi­deo: Was ist im Ver­gleich zum Song über­ra­schend und wel­che Wir­kung hat die­se Über­ra­schung? Und dif­fe­ren­zier­ter: Wie wer­den die bei­den Haupt­fi­gu­ren des Mu­sik­vi­de­os fil­misch cha­rak­te­ri­siert und wel­che Wir­kung hat die­se Cha­rak­te­ri­sie­rung?

An­re­gend ist auch zu die­ser Fra­ge das In­ter­view von crea­ti­ve re­view mit dem Film-Kol­lek­tiv Ca­na­da im Bei­trag Be­hind-the-sce­nes with Ca­na­da on the new Beck vi­deo, in dem es u. a. im die Ge­schlech­ter-Be­set­zung der bei­den Haupt­rol­len geht: "Be­ing less chli­chéd the cha­rac­ters get ed­gier."

Zum Schluss noch ein schö­nes Zi­tat von Da­vid Knight auf Pro­mo­news., der das Mu­sik­vi­deo wun­der­bar tref­fend cha­rak­te­ri­siert:

A mo­dern Joan of Arc dons her ar­mour to un­der­ta­ke a da­un­ting mis­si­on in one of the most ho­sti­le and chal­len­ging en­vi­ron­ments known to man – the teenage hou­se­par­ty. And what could be a more no­ble cau­se than res­cuing your use­l­ess drun­ken brot­her from in­fa­my and ri­di­cu­le?

Da­vid Knight, Pro­mo­news

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